Ja, das ist interessant. Wäre schön, wenn sich hier jemand melden würde, der/die Ahnung hat von kindlichem Spracherwerb. Wie wichtig ist die Familie, wie wichtig ist die Umgebung? Mein Vater war Bayer, meine Mutter Berlinerin. Ich bin in Berlin aufgewachsen und kann kein Wort Bayerisch. Erika Fuchs' Mutter stammte aus Franken, lebte erst seit ihrem 12. oder 13. Lebensjahr in München. Der Vater stammte aus Westfalen. Die Familie Petri lebte erst in Rostock, dann in Niederschlesien, dann in Hinterpommern, dann in Berlin. Welche Sprache wurde bei den Petris "zu Hause" gesprochen? Wenn man EF im Radio hört, spricht sie norddeutsch-hochdeutsch. Die 50 Jahre im fränkischen Schwarzenbach haben offenbar keine Spuren hinterlassen. Das Schlesische auch nicht, das Süddeutsche der Mutter offenbar auch nicht.
Tagespanel im Original:
Coolwater
@coolwater
In der Umgangssprache ist "wie" angeblich eher in Südeutschland verbreitet.
Ich glaube, das ist außerdem eine Altersfrage. Die Fuchs ist Jahrgang 1906. Als sie jung war, zu Anfang des Jahrhunderts, sahen auch gute Schreiber die Vermengung von "wie" und "als" wohl lockerer als heute. Wenn man ein Buch oder eine Zeitung von 1900 oder 1920 zur Hand nimmt, wird man die beiden wahrscheinlich viel mehr vermengt finden denn heute. Laut dem Stilpapst Eduard Engel sind die beiden erst im Neuhochdeutschen verwurschtelt worden. Onkel Duden und eine ganze Brigade von Sprach- und Schulmeistern – darunter Engel – haben es im 20. Jahrhundert geschafft, diese Verwurschtelung aus "gutem Deutsch" wieder rauszuprügeln, so wie sie auch der einst verbreiteten, heute fast abgestorbenen Derselberei den Garaus gemacht haben. Ein seltsamer Fall ist übrigens die früher in so vielen Fällen munter geübte Auslassung eines unbetonten "e" ("andres", "euerm", "unserm" und so weiter). In "nüchternen" Texten wie Zeitungen oder Sachbüchern findet man das heute so gut wie gar nicht mehr. Vor hundert oder hundertfünfzig Jahren haben auch Wirtschaftsberichterstatter oder Naturwissenschaftler noch so geschrieben, heute tun's allenfalls Romanautoren in wörtlicher Rede. Ich weiß gar nicht, woran das liegt. Das allgemein "akzeptierte" Schriftdeutsch ist hier – auf eine durchaus unerfreuliche Weise – starrer geworden. Übereifrige Schulmeister*innen würden "andrer" und "unsrem" einem Kinde heut wohl als "Fehler" anstreichen.
12.07.2022, 22:27:14
Coolwater
@coolwater
Wäre schön, wenn sich hier jemand melden würde, der/die Ahnung hat von kindlichem Spracherwerb. Wie wichtig ist die Familie, wie wichtig ist die Umgebung? Wenn man EF im Radio hört, spricht sie norddeutsch-hochdeutsch. Die 50 Jahre im fränkischen Schwarzenbach haben offenbar keine Spuren hinterlassen. Das Schlesische auch nicht, das Süddeutsche der Mutter offenbar auch nicht.
Ich habe "wissenschaftlich" davon keine Ahnung, kann hier nur eigene Erfahrungen und Beobachtungen wiedergeben. Mein Vater war Engländer, meine Mutter ist Deutsche. Als ich elf war, trennten sich meine Eltern. Mein Vater hat mit mir immer englisch gesprochen, meine Mutter – sie war Englischlehrerin auf einem Gymnasium – ebenfalls, als ich noch klein, etwa bis zum Alter von vier oder fünf, genau weiß ich da nicht. Gelebt habe ich immer nur in Deutschland, und in der Kindergartenzeit muß – außer im Umgang mit meinem Vater – die große Umschalte zum Deutschen geschehen sein, der sich nach einigem Widerstand ("Talk English!") bald auch meine Mutter fügte. Englisch ist meine zweite Muttersprache, ich sprech's aber tatsächlich nicht besser als ein Deutscher, der einigermaßen gut Englisch gelernt hat. Die Wucht der "Umgebung" hat die "Familie" niedergewalzt. Mich wundert daher überhaupt nicht, daß die Fuchs das Norddeutsche ihrer im Pommerschen verbrachten Kindheits- und Jugendjahre sprach und die mutmaßlich süddeutsche Sprachfärbung ihrer Mutter bei ihrer eigenen Sprache offenbar keinerlei Spuren hinterlassen hat. Ich weiß, daß es auch noch ganz andere Fälle gibt: etwa Kinder von türkischen Gastarbeitern, die in Berlin-Kreuzberg geboren und aufgewachsen sind und im Grunde nie richtig Deutsch, aber auch nicht richtig Türkisch zu sprechen gelernt haben. Aber: Mein englischer Vater und Fuchsens fränkische Mutter waren in ihrer Umgebung als Sprachvorbilder Einzelgestalten, in Kreuzberg haben wir es mit Tausenden von türkischen Gastarbeitern und einer ganzen Parallelgesellschaft zu tun, in denen ihre Kinder aufgewachsen sind. Wären an der Persante dreitausend Franken ansässig gewesen und hätte die Fuchs sich weitgehend in deren Kreisen bewegt, säh's mit der Erikaschen Sprachfärbung vielleicht ganz anders aus. Außerdem ist zu bedenken: Englisch oder Türkisch sind andere Sprachen, bei der Fuchs dagegen reden wir von landschaftlichen Formen des Deutschen, zwischen denen die gegenseitige Verständlichkeit doch mehr gegeben ist, und auch die sie alle überdachenden Hochsprache macht es dem einzelnen leicht, sich rasch anzupassen. Ich gehe davon aus, daß schon Fuchsens Mutter sich in Belgard sprachlich einigermaßen in ihre norddeutsche Umgebung eingefügt hat und nicht dahergebabbelt hat wie im tiefsten Franggen. Dagegen hatte es Erika in Schwarzenbach nicht nötig, sich den Franken sprachlich anzupassen, da die Fuchsens "Schriftdeutsch" eh verstanden gaben. Eher werden die Franken sich ihr im Gespräch mit ihr angepaßt haben und versucht haben, möglichst "Schriftdeutsch" zu reden. Das ist das Sprachübergewicht des Nordens gegenüber dem Süden. Man glaube nicht, daß heute ein Norddeutscher, der nach Stuttgart, Nürnberg oder Regensburg zieht, es nötig hat oder für nötig hält, die dortige Sprachfärbung anzunehmen oder gar die örtliche Mundart zu büffeln. Dagegen muß jeder Schwabe, Bayer, der Sachse zumal, der in den Norden zieht, seinen "Bauerndialekt" weitgehend ablegen, wenn er nicht als Dorftrampel daherkommen will. "Okay" ist im Norden allenfalls eine gemäßigte, möglichst nur der Hauch einer süddeutschen Klangfärbung, im Fall des Sächsischen nicht mal das. Wäre die Fuchs nicht für fünfzig Jahre nach Schwarzenbach, sondern nach England oder in die Mongolei gezogen, wär's ganz anders gewesen. Dort hätte sie gezwungenermaßen die Sprache der Einheimischen für sich annehmen müssen, um sich mit ihrer Umgebung zu verständigen, und ihr Deutsch wäre bei Nichtgebrauch vielleicht etwas eingerostet, und Anglizismen oder Mongolizismen hätten sich darin eingeschlichen.
12.07.2022, 23:19:52
Du musst angemeldet sein, um hier posten zu können.